Unser kleines Projekt #demokratianmeinemgartenzaun ist ja entstanden, weil ich mich gewundert habe, dass die Grünen zwar das gesamte Viertel plakatieren, hier draußen bei uns aber so gut wie nichts von ihnen zu sehen ist. Seit die Plakate nun an meinem Gartenzaun hängen, gehe ich mit offeneren Augen durch die Stadt – und es ist erstaunlich: Wer denkt, dass demokratische Parteien bei allen Menschen um Stimmen buhlen, scheint vollkommen daneben zu liegen.
Bremer Plakatlandkarte
Wenn ich aus Arbergen in die Stadt fahre, ist unschwer zu erkennen, wo welche Partei ihre potenziellen Wähler mobilisieren will: Ziemlich genau bis an die Grenze von Hemelingen sehe ich nur SPD und CDU-Plakate, so als ob die Arberger gar keine andere Wahl als die Volksparteien hätten (mit Ausnahme an meinem Gartenzaun natürlich), in Hemelingen verändert sich nicht nur das Stadtbild (die Anzahl der Wett-Lokale, der türkischen Supermärkte und der verlassenen Häuser steigt) sondern auch die Plakatierung – SPD- und CDU-Plakate mischen sich nun einträchtig mit jenen der Linken. Und an den Laternen des Autobahnzubringers Richtung Stresemannstraße, in Sebaldsbrück, scheint Doris Achelwilm die Masten so akribisch frühbesetzt zu haben, wie man es sonst nur von deutschen Pauschaltouristen auf den Pool-Liegen von Mallorca kennt (oder in Kuba?).
Das erste Plakat der Grünen hängt erst in der Östlichen Vorstadt, gleich gegenüber vom Fahrradfahrer-Ziel, dem "Paulaner", wo die Jack-Wolfskin-Jacken mit ihren Manufactum-Rädern und Leder-Satteln gern Halt machen und einkehren. Erst anderthalb Kilometer weiter stadteinwärts hängt am Osterdeich dann auch das erste Plakat der FDP (ist es von der FDP, ich sehe nur blond, aber kaum ein Logo), bevor die Plakat-Dichte das Wahlergebnis im Viertel widerspiegelt: Mehrheit für Grün, SPD und CDU als bunte Alibi-Staffage und die Linke als Protestpartei.
Kaffeetrinken in Horn
Ich verstehe dieses Phänomen natürlich, und mir ist klar, dass Elisabeth Motschmann bei ihrem Häuserwahlkampf lieber in Horn klingelt, weil sie weiß, dass man sie hier kennt, dass der Kaffee in schönem Porzellan gereicht und eher weniger Überzeugungsarbeit zu leisten ist.
Vor einiger Zeit hatte ich Jürgen Trittin zu Gast in meinem Talk "WESER-Strand" beim Weser-Kurier. Natürlich haben wir auch da über die Wahl geplaudert. Und er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass die Grünen – ebenso wie jede andere größere Partei – ihren Wahlkampf territorial gestalten. Die Faustregel ist: Info-Stände und Plakate, Häuserwahlkampf und Bürgergespräche werden dort geführt, wo die Wähler eh schon leben.
Ich habe diese Strategie damals nicht verstanden und verstehe sie heute noch weniger. Demokratie bedeutet für mich in erster Linie, zu überzeugen. Aber, bitte doch nicht die bereits Überzeugten. Ich glaube fest daran, dass der Grünen-Kandidat in Tenever, der CDU-Kandidat in Kattenturm, der Linke in Schwachcausen sicherlich viel zu hören bekommen würden, ja, dass es vielleicht auch zum Bürgerstreit statt zum Bürgergespräch kommen würde. Aber ich bin ebenso sicher, dass die Menschen sehen würden: da kämpft jemand um unsere Stimme.
Die Überzeugten überzeugen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass die strategischen Wahlkampagnen, das ausgewählte Plakatkleben in den eigenen Hochburgen, die Bürgergespräche mit der Stammklientel auf beiden Seiten – jener der Politiker ebenso wie jener der Wähler – für ein vollkommen verzerrtes Bild der politischen Landschaft aber auch der Befindlichkeit der Bürger sorgen. Zum einen, weil per se angenommen wird, dass es gar nicht darum geht, möglichst viele Menschen zu überzeugen, sondern das eigene Klientel zu bestätigen und notfalls Wankelmütige zu bewegen, doch mitzumachen.
Wahlkampf im "Feindesland" aber, in fremden Territorien, wäre für alle Seiten ein Gewinn: Erklärt uns in Arbregen doch Mal, liebe Grüne, wie wir mit einer Familie hier am Ende der Welt ohne Auto leben sollen, wenn ein Straßenbahnticket für eine Fahrt in die Stadt über zwei Euro kostet und die "Reise" für sieben Kilometer eine Dreiviertelstunde, erklärt denen in Kattenturm doch Mal, liebe CDU, warum sie jeden Tag erleben, dass unsere Bildung noch immer eine Zweiklassenbildung ist und was sie von Hartz IV oder von der schwarzen Null haben, erklärt den Oberneuländern doch Mal, liebe Linke, wie der Unternehmer profitieren und mehr Menschen einstellen kann, wenn er höhere Abgaben zahlen soll, und sagt den Sebaldsbrückern doch Mal, liebe SPD, was eigentlich aus der Arbeiterpartei geworden ist. Glaubt Ihr, dass mit Euren Plänen im "Feindesland" eh Hopfen und Malz verloren ist? Wäre es nicht möglich, einen eingefleischten Gegner Eurer Partei zu überzeugen? Habt Ihr schon kapituliert? Haben wir es mit einem Wohlfühlwahlkampf ohne echte Konfrontation zu tun?
Begegnungen auf Augenhöhe
Ich glaube fest daran, dass diese Begegnungen viel zu wenig stattfinden – und dass der Wahlkampf, der sich vollkommen an der eigenen Klientel ausrichtet, zwei große Probleme schafft: Auf der einen Seite ist der gesellschaftliche Spiegel, den die Parteien vorgehalten bekommen, ein Zerrbild – die eigenen Programme werden von der eigenen Klientel bestätigt, und man wähnt sich auf dem richtigen Kurs. In ihren Stammwähler-Bezirken befinden sich Parteien in einer Filterblase, die noch enger ist als jene bei Facebook. Auf der anderen Seite fühlen sich viele Wähler nicht mehr umworben – und das ist eigentlich noch viel schlimmer: Wie soll ich mich für eine Partei begeistern, wenn die mich gar nicht begeistern will?
Ich würde mich über mehr Streit im Wahlkampf freuen, darüber, wenn auch an jenen Orten zugehört und plakatiert würde, in denen es darum geht, Menschen mit andere Meinung, einem anderen Alltag, einer anderen Lebenssituation zu überzeugen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen – und: dabei auch ernsthaft die eigenen Klientel-Ziele zu hinterfragen.
Alternative zum eigenen Denken
Sicher, Demokratie ist der Wettstreit der Meinungen, aber er schließt eben nicht aus, seine eigene Meinung mit ganz unterschiedlichen Gruppen zu debattieren, sie vielleicht zu justieren und dem Wähler die Möglichkeit zu geben auch seine Meinung zu hinterfragen und zu überlegen, ob es nicht Alternativen zum eigenen Denken gäbe.
Ich beobachte hier in Arbrergen, dass viele Menschen sich verlassen fühlen, dass in unserem Stadtteil keine Wahl gewonnen wird – und das sorgt für Enttäuschung und für Müdigkeit. Es ist, gerade in einem Wahlkampf, unerlässlich, Debatten, auch kontroverse, in jede Ecke des Landes zu bringen – sonst werden die Leerstellen von jenen Parteien besetzt, die all jene potenziellen Wähler mit billigen Versprechen abholen, um die sonst niemand mehr kämpft.
Deshalb auch mein Gartenzaun: Die Auswahl ist groß, und auch bei uns in Abregen kann jede Partei gewählt werden – ihre Chance steigt, wenn sie präsent ist, aber dafür ist ja #demokratieanmeinemgartenzaun da.
Hier das damalige Gespräch mit Jürgen Trittin in voller Länge:
Bremer Plakatlandkarte
Wenn ich aus Arbergen in die Stadt fahre, ist unschwer zu erkennen, wo welche Partei ihre potenziellen Wähler mobilisieren will: Ziemlich genau bis an die Grenze von Hemelingen sehe ich nur SPD und CDU-Plakate, so als ob die Arberger gar keine andere Wahl als die Volksparteien hätten (mit Ausnahme an meinem Gartenzaun natürlich), in Hemelingen verändert sich nicht nur das Stadtbild (die Anzahl der Wett-Lokale, der türkischen Supermärkte und der verlassenen Häuser steigt) sondern auch die Plakatierung – SPD- und CDU-Plakate mischen sich nun einträchtig mit jenen der Linken. Und an den Laternen des Autobahnzubringers Richtung Stresemannstraße, in Sebaldsbrück, scheint Doris Achelwilm die Masten so akribisch frühbesetzt zu haben, wie man es sonst nur von deutschen Pauschaltouristen auf den Pool-Liegen von Mallorca kennt (oder in Kuba?).
Das erste Plakat der Grünen hängt erst in der Östlichen Vorstadt, gleich gegenüber vom Fahrradfahrer-Ziel, dem "Paulaner", wo die Jack-Wolfskin-Jacken mit ihren Manufactum-Rädern und Leder-Satteln gern Halt machen und einkehren. Erst anderthalb Kilometer weiter stadteinwärts hängt am Osterdeich dann auch das erste Plakat der FDP (ist es von der FDP, ich sehe nur blond, aber kaum ein Logo), bevor die Plakat-Dichte das Wahlergebnis im Viertel widerspiegelt: Mehrheit für Grün, SPD und CDU als bunte Alibi-Staffage und die Linke als Protestpartei.
Kaffeetrinken in Horn
Ich verstehe dieses Phänomen natürlich, und mir ist klar, dass Elisabeth Motschmann bei ihrem Häuserwahlkampf lieber in Horn klingelt, weil sie weiß, dass man sie hier kennt, dass der Kaffee in schönem Porzellan gereicht und eher weniger Überzeugungsarbeit zu leisten ist.
Vor einiger Zeit hatte ich Jürgen Trittin zu Gast in meinem Talk "WESER-Strand" beim Weser-Kurier. Natürlich haben wir auch da über die Wahl geplaudert. Und er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass die Grünen – ebenso wie jede andere größere Partei – ihren Wahlkampf territorial gestalten. Die Faustregel ist: Info-Stände und Plakate, Häuserwahlkampf und Bürgergespräche werden dort geführt, wo die Wähler eh schon leben.
Ich habe diese Strategie damals nicht verstanden und verstehe sie heute noch weniger. Demokratie bedeutet für mich in erster Linie, zu überzeugen. Aber, bitte doch nicht die bereits Überzeugten. Ich glaube fest daran, dass der Grünen-Kandidat in Tenever, der CDU-Kandidat in Kattenturm, der Linke in Schwachcausen sicherlich viel zu hören bekommen würden, ja, dass es vielleicht auch zum Bürgerstreit statt zum Bürgergespräch kommen würde. Aber ich bin ebenso sicher, dass die Menschen sehen würden: da kämpft jemand um unsere Stimme.
Die Überzeugten überzeugen?
Ich bin der festen Überzeugung, dass die strategischen Wahlkampagnen, das ausgewählte Plakatkleben in den eigenen Hochburgen, die Bürgergespräche mit der Stammklientel auf beiden Seiten – jener der Politiker ebenso wie jener der Wähler – für ein vollkommen verzerrtes Bild der politischen Landschaft aber auch der Befindlichkeit der Bürger sorgen. Zum einen, weil per se angenommen wird, dass es gar nicht darum geht, möglichst viele Menschen zu überzeugen, sondern das eigene Klientel zu bestätigen und notfalls Wankelmütige zu bewegen, doch mitzumachen.
Wahlkampf im "Feindesland" aber, in fremden Territorien, wäre für alle Seiten ein Gewinn: Erklärt uns in Arbregen doch Mal, liebe Grüne, wie wir mit einer Familie hier am Ende der Welt ohne Auto leben sollen, wenn ein Straßenbahnticket für eine Fahrt in die Stadt über zwei Euro kostet und die "Reise" für sieben Kilometer eine Dreiviertelstunde, erklärt denen in Kattenturm doch Mal, liebe CDU, warum sie jeden Tag erleben, dass unsere Bildung noch immer eine Zweiklassenbildung ist und was sie von Hartz IV oder von der schwarzen Null haben, erklärt den Oberneuländern doch Mal, liebe Linke, wie der Unternehmer profitieren und mehr Menschen einstellen kann, wenn er höhere Abgaben zahlen soll, und sagt den Sebaldsbrückern doch Mal, liebe SPD, was eigentlich aus der Arbeiterpartei geworden ist. Glaubt Ihr, dass mit Euren Plänen im "Feindesland" eh Hopfen und Malz verloren ist? Wäre es nicht möglich, einen eingefleischten Gegner Eurer Partei zu überzeugen? Habt Ihr schon kapituliert? Haben wir es mit einem Wohlfühlwahlkampf ohne echte Konfrontation zu tun?
Begegnungen auf Augenhöhe
Ich glaube fest daran, dass diese Begegnungen viel zu wenig stattfinden – und dass der Wahlkampf, der sich vollkommen an der eigenen Klientel ausrichtet, zwei große Probleme schafft: Auf der einen Seite ist der gesellschaftliche Spiegel, den die Parteien vorgehalten bekommen, ein Zerrbild – die eigenen Programme werden von der eigenen Klientel bestätigt, und man wähnt sich auf dem richtigen Kurs. In ihren Stammwähler-Bezirken befinden sich Parteien in einer Filterblase, die noch enger ist als jene bei Facebook. Auf der anderen Seite fühlen sich viele Wähler nicht mehr umworben – und das ist eigentlich noch viel schlimmer: Wie soll ich mich für eine Partei begeistern, wenn die mich gar nicht begeistern will?
Ich würde mich über mehr Streit im Wahlkampf freuen, darüber, wenn auch an jenen Orten zugehört und plakatiert würde, in denen es darum geht, Menschen mit andere Meinung, einem anderen Alltag, einer anderen Lebenssituation zu überzeugen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen – und: dabei auch ernsthaft die eigenen Klientel-Ziele zu hinterfragen.
Alternative zum eigenen Denken
Sicher, Demokratie ist der Wettstreit der Meinungen, aber er schließt eben nicht aus, seine eigene Meinung mit ganz unterschiedlichen Gruppen zu debattieren, sie vielleicht zu justieren und dem Wähler die Möglichkeit zu geben auch seine Meinung zu hinterfragen und zu überlegen, ob es nicht Alternativen zum eigenen Denken gäbe.
Ich beobachte hier in Arbrergen, dass viele Menschen sich verlassen fühlen, dass in unserem Stadtteil keine Wahl gewonnen wird – und das sorgt für Enttäuschung und für Müdigkeit. Es ist, gerade in einem Wahlkampf, unerlässlich, Debatten, auch kontroverse, in jede Ecke des Landes zu bringen – sonst werden die Leerstellen von jenen Parteien besetzt, die all jene potenziellen Wähler mit billigen Versprechen abholen, um die sonst niemand mehr kämpft.
Deshalb auch mein Gartenzaun: Die Auswahl ist groß, und auch bei uns in Abregen kann jede Partei gewählt werden – ihre Chance steigt, wenn sie präsent ist, aber dafür ist ja #demokratieanmeinemgartenzaun da.
Die Linke debattiert mit Freunden am Ziegenmarkt... |
Die CDU klingelt an hübschen Haustüren in Horn... |
Die Grünen sitzen mit Spitzenkandidaten ohne Mikro auf dem Marktplatz |
Hier das damalige Gespräch mit Jürgen Trittin in voller Länge:
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